Ein Archiv
Warum macht man ein Archiv über einen Fußballverein?
Die meisten Fußballfans würden wahrscheinlich nie darüber nachdenken, ein Archiv für ihren Lieblingsverein zu erstellen. Warum sollte es einen auch interessieren, welchen Spieler der eigene Lieblingsklub in den Fünfzigerjahren ein einziges Mal eingewechselt hat, als dieser Verein noch in irgendeiner unterklassigen Liga spielte? Damals ging man wahrscheinlich noch nicht zu den Spielen des Klubs, man kannte den Verein noch nicht, vielleicht war man noch gar nicht geboren. Die damals eingesetzten Spieler wurden nicht allwöchentlich in den Nachrichten erwähnt, sie waren allenfalls in der eigenen Stadt bekannt aber selbst einen Ort weiter hatte man die Namen noch nie gehört – und heute kennt die Spieler ohnehin keiner mehr und niemand kann sich daran erinnern, wie diese Fußballspieler überhaupt ausgesehen haben. Auch der Verein war im Grunde ein völlig anderer als heute, man hatte einen anderen Präsidenten, so etwas wie Manager gab es im Fußball ohnehin noch nicht und der Zuschauerschnitt belief sich auf wenige hundert Zuschauer, die dicht gedrängt an der Seitenlinie standen, da sogar die Tribünen erst Jahrzehnte später gebaut wurden. Der Verein bestand damals aus lauter namenlosen, gesichtslosen Figuren, mit denen man nichts verbindet.
Und dennoch gibt es zu beinahe jedem Bundesliga-Verein mindestens eine von einem Fan erstellte Datenbank, die wie im Falle von Eintracht Frankfurt häufig sogar das offizielle Vereinsarchiv in den Schatten stellt, da der Fan mehr Herzblut in seine Datenbank gesteckt hat als Vereinsoffizielle jemals gehabt hätten (wobei die SpVgg Fürth eines der seltenen Gegenbeispiele ist, da sie ein großartiges offizielles Archiv besitzt). Wir wissen, welcher Spieler in den Fünfzigerjahren auf einen einzigen Einsatz für den heutigen Bundesligisten kam, weil sich irgendein Fan dafür interessiert hat, wer das Trikot mit dem Vereinsemblem damals getragen hat – und wer weiß, wie lange der Fan dafür recherchieren musste und wie sehr er sich gefreut hat, als er einen Namen entdeckt hat, von dem er vorher selbst noch nie gehört hatte. Wir wissen, dass sich überraschend viele Zuschauer dieses unterklassige Spiel des Vereins angeschaut haben, weil der Fan in einem alten Zeitungsbericht die Zuschauerzahl entdeckt hat, und wir haben eine vage Vorstellung davon, dass die damaligen Zuschauer genauso angespannt, aufgeregt und enthusiastisch der geliebten Mannschaft zugesehen haben, wie die Fans es heute tun – und die Mehrzahl der Zuschauer wohl aus dem Effeff wusste, wer dieser ominöse eingewechselte Spieler war, für den man heutzutage monatelang suchen muss. Einige der Zuseher von damals sind vielleicht auch heute noch allwöchentlich im Stadion, erinnern sich an die unbekannten Spieler von damals und freuen sich, wenn sie Jahrzehnte später in irgendeinem Archiv auf einmal diese Spielernamen wieder lesen können. Aber selbst wenn nicht: Man hat die Vereinsgeschichte seines Herzensklubs ein Stück weit vollständiger gemacht und vielleicht macht man deswegen ein Archiv zu einem Fußballverein.
Die Eintracht ist so klein, selbst unser Vereinslogo ist ganz verpixelt! |
Und wenn ein Archiv zu einem Profiverein irgendwie verständlich und nachvollziehbar ist, warum ist es das dann nicht bei einem Verein, der nach wie vor in den unteren Spielklassen aktiv ist? Sogar aufgelöste Vereine wie der Post SV haben ein Archiv, das von einem enttäuschten ehemaligen Fan dieses Vereins erstellt wurde, und der Amateurverein ASC Neuenheim aus Heidelberg besitzt ein Vereinsarchiv, das schlicht beeindruckend ist.
Zu Eintracht Norderstedt gibt es kein solches Archiv. Natürlich nicht, unsere Eintracht ist ein kleiner Verein in einer relativ niedrigen Spielklasse aus einem vergleichsweise unbedeutenden Vorort einer Millionenstadt, dessen größter Erfolg das Scheitern des Vorgängerklubs in einer Aufstiegsrunde war. Bis heute hat es der Verein nicht geschafft, in den überregionalen Medien regelmäßige Erwähnung zu finden, und die Zuschauerzahl des Klubs befindet sich nach wie vor im mittleren dreistelligen Bereich. Wer sollte sich da für ein Archiv interessieren oder sich gar die Mühe machen, eines zu erstellen? Aber es gibt auch einige wenige Vereine im Amateurfußball, die ein Archiv anbieten können, um das Profivereine neidisch wären. Jede Aufstellung und jeder Torschütze in Kreisliga und Bezirksliga, sofern sie ermittelt werden konnten, sind zu finden und ein ehemaliger Spieler dieses Vereins, der niemals gedacht hatte, jemals noch einmal im Rampenlicht zu stehen, findet sich auf einmal in einer Vereinsdatenbank wieder und stellt überrascht fest, dass er auf dem achten Rang der ewigen Einsatzliste seines damaligen Vereins steht. Es gibt auch im Amateurfußball Zuschauer, die penibel alle Ergebnisse ihres Klubs protokollieren und ein Archiv ihres Dorfvereins besitzen, und das ist nur konsequent, wenn man bedenkt, dass es mit dem DSFS sogar einen Verlag gibt, der sich einzig und allein damit beschäftigt, ein ganz Deutschland umfassendes Archiv für Amateurfußball zu erstellen.
„Du bist verrückt“, hat mir der Fotograf der Eintracht mal freundschaftlich gesagt als ich beiläufig erwähnt habe, dass ich mal ein Archiv zu Eintracht Norderstedt erstellen möchte, aber jeder Irre kann bestätigen, dass Verrücktsein Spaß bringt. Und ist es nicht so, dass ein Synonym zu „verrückt“ „fanatisch“ lautet und daher das Wort „Fan“ stammt? Wir sind alle verrückt: Zeichnen Banner, die wir vor dem Spiel am Zaun aufhängen, pilgern alle zwei Wochen zu einem Heimspiel und feuern die Mannschaft an, trinken Bier weil andere Fußball spielen, gehen traurig oder glücklich nach Hause, je nach dem wer mehr Tore geschossen hat; und einige fotografieren oder filmen das Geschehen sogar, hängen während des Spiels am Smartphone um einen Liveticker im Internet anzubieten, den sich mit Glück einige hundert Leute ansehen, und schreiben Spielminuten auf um nach dem Spiel für die Tageszeitung einen Bericht zu schreiben. Und in zwei Wochen sieht man sich wieder – ich sag ja, Verrücktsein bringt Spaß.
Und besagter Fotograf macht heute die Facebookseite der Eintracht. Wir sind eben ein bisschen verrückter als andere.
Eine Liebeserklärung an den Amateurfußball
Viele sagen, dass der Fußball im Amateurbereich „noch echt“ sei, auch wenn kaum einer weiß, was das wirklich bedeuten mag. Vielleicht ist unterklassiger Fußball echt, weil die Zuschauerzahlen in den letzten Jahrzehnten rapide gesunken sind, weswegen man sich am Rande eines mittelklassigen Achtligaspiels gegenseitig versichern kann, wie schön die guten alten Zeiten bei diesem Verein doch gewesen waren. Vielleicht ist unterklassiger Fußball echt, weil man dichter am Spielfeld steht, da es entweder keinen oder nur einen Zaun zwischen Spielern und Fans gibt und keine meterbreite Pufferzone, die für Vereinsoffizielle, Sicherheitspersonal und Journalisten gedacht ist. Vielleicht ist Amateurfußball echter, weil man beinahe eifersüchtig auf sein Bier aufpassen muss, da man befürchtet, dass ein weniger talentierter Stürmer es mit seinem nächsten missglückten Schuss vielleicht erwischen könnte – und weil man ihm anschließend ein Bier ausgeben muss, da er so gut „aufs Bier gezielt“ hat. Vielleicht weil man im Amateurfußball manchmal erstaunt feststellen kann, dass tatsächlich Leute mit einer Kamera zugegen sind, und man sich darüber ehrlich freuen kann, weil das bedeutet, dass irgendwo irgendwann in einer kurzen Spalte in einer Zeitung, die man nie lesen wird, oder auf einer Internetseite, von der man nie hören wird, von genau diesem Spiel berichtet werden wird, bei dem man gerade ist. Vielleicht auch einfach nur, weil regelmäßig ein verunglückter Schuss auf der spärlich besuchten Tribüne landet und man sich als Zuschauer für einen winzigen Moment, für wenige Sekunden, tatsächlich als Teil des Spiels fühlen kann, während man lachend den Ball wieder zurück aufs Spielfeld wirft, und es einem eigentlich völlig egal ist, ob der Spieler sich nun artig bedankt oder ob er direkt weiterspielt. Und wenn dann doch einmal ein Schuss im Tor landet, wird man vielleicht nie erfahren, wer überhaupt der Torschütze war, weil es in aller Regel keinen Stadionsprecher gibt, der es einem sagen könnte. Wahrscheinlich ist der Amateurfußball, der unterklassige Fußball, einfach nur deswegen echter, weil er so ursprünglich ist. Der unterklassige Fußball ist echter als Bundesliga und Nationalmannschaft, aber woran das liegt, das weiß ich nicht.
Zugegeben, Eintracht Norderstedt ist nicht mehr ganz so sehr Amateurfußball und hatte auch nie den Anspruch, der Inbegriff des Amateurfußballs zu sein. Die Eintracht mag insbesondere in Pokalspielen zwar nach wie vor gegen die Kleinsten der Kleinen des Hamburger Amateurfußballs antreten und spielt dabei gelegentlich noch auf alten zertrampelten Grandplätzen von Acht- oder Neuntligisten, deren Spieler nach wie vor davon schwärmen, dass sie vor Jahrzehnten mal in der E-Jugend einen heutigen Zweitligaspieler getunnelt haben, der sich auch ganz bestimmt noch daran erinnern wird, aber als Regionalligist hat die Eintracht vor einigen Jahren den Sprung in den überregionalen Fußball geschafft. Journalisten, Kameras und Sicherheitspersonal gibt es obligatorisch bei mittlerweile jedem Punktspiel, und die Zuschauerzahlen sind zumindest nicht mehr zweistellig, wie sie es in noch tieferen Ligen zu sein pflegen, wo es mindestens eine Person auf der Anlage gibt, die die Namen aller anwesenden Personen auswendig kennt. Auf der anderen Seite ist die Eintracht aber auch weit entfernt vom Profifußball, der in ultramodernen Stadien vor zig tausend Zuschauern ausgetragen wird. Und Hand aufs Herz – so wird es bei der Eintracht auch nie sein.
Für uns Fans sieht das Wappen aber so aus. | Oder so. Auch okay. | Es gibt auch ein paar sehr alte Fans. |
Aber wer ist denn noch alles Eintracht-Norderstedt-Fan? Wahrlich nicht allzu viele. In der vierten Spielklasse des deutschen Ligasystems spielend hat die Eintracht einen Zuschauerschnitt von gut 500 Nasen pro Spiel, womit man sich in der Liga im unteren Mittelfeld befindet. In jedem vierten oder fünften Heimspiel sind die Gästefans lauter als die eigenen, und von den gut 80.000 Norderstedter Einwohnern hat wohl mindestens die Hälfte noch nie von der Eintracht gehört, während sich der größte Teil der anderen Hälfte nicht für sie interessiert. Wenn es im Stadion alle paar Monate mal eine vierstellige Zuschauerzahl zu bestaunen gibt, dann ist das als würde man in der Champions League spielen. Es ist fast so als gäbe es unsere Eintracht gar nicht. Und doch, es gibt sie, die Leute, die aus irgendeinem Grund allwöchentlich am Sportplatz an der Ochsenzoller Straße im Norderstedter Ortsteil Garstedt stehen und hoffen, dass die Spieler, die die rot-weißen Farben der Eintracht tragen, ihr Spiel gewinnen. Es gibt sie in ganz Deutschland, die unbeirrten und enthusiastischen Fans, die ihr Herz an ihren ganz eigenen Amateurverein verloren haben, fernab der Livekameras öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten und nahezu unbeachtet von den Journalisten, die gemeinsam tausende von Fotos von Profispielen knipsen und hoffen, das ausgerechnet ihres das beste ist, das später Millionen Leser der Zeitung ins Staunen versetzen wird.
Irgendwann will die Eintracht mal in der 3. Liga spielen, einer deutschlandweiten Liga, in der unser Hamburger Vorstadtverein Auswärtsspiele nach Sachsen, Bayern und Rheinland-Pfalz auf sich nehmen müsste. Ich glaube nicht, dass die Eintracht jemals in der 3. Liga spielen wird. Irgendwann wollte die Eintracht auch mal Regionalliga spielen und sie hat es tatsächlich geschafft, und noch früher gab sie sich das Ziel in die Oberliga aufzusteigen, und sie hat es hinbekommen, wenn auch nur, weil sich die Liga, in der Norderstedt bereits spielte, sich nach zwei Spielzeiten selbst diesen Namen gab. Vielleicht spielt die Eintracht doch irgendwann mal in der 3. Liga, aber selbst wenn nicht, ich schau mir die Spiele auch in der Kreisliga an.
Und ich würde auch in der Kreisliga jedes Spiel unserer Eintracht protokollieren und archivieren, und das würde mir vielleicht sogar noch mehr Spaß bringen als heutzutage. Falls das überhaupt möglich ist.